Champions League: Ende einer Ära: Was der Fehlgriff von Manuel Neuer für die Zukunft des FC Bayern bedeutet

Über viele Jahre galt Manuel Neuer als unantastbar in München. Seit der Nacht von Madrid weiß der Verein, dass er beim Umbruch im Sommer auch die Torwartfrage stellen muss.      

Für Manuel Neuer, 38 Jahre alt, 721 Einsätze für den FC Bayern, beginnt an diesem Donnerstag ein neues Leben als Torhüter. Eine Szene und ein Satz werden ihn ab heute verfolgen, und beides wird Neuer nicht mehr loswerden, nicht mal ein Karriereende würde Erlösung bringen. 

Die Szene: Minute 88 im Stadion Santiago Bernabeu von Madrid, Champions League-Halbfinale Real gegen Bayern. Vinicius Junior schießt aus 20 Metern auf Neuers Tor, der Ball setzt während des Flugs einmal kurz auf dem Rasen auf, Neuer will ihn mit beiden Händen fassen, aber er prallt gegen seine Brust und tropft zurück aufs Feld. Joselu schiebt ihn über die Linie, Ausgleich, die 1:0-Führung der Bayern ist dahin.  

Der Satz: Da sei „ein minimaler Maulwurf drin gewesen“, sagte Neuer nach dem Spiel, und meinte damit einen kleinen Erdhügel auf dem Rasen, der angeblich die Flugkurve des Balles entscheidend verändert hatte. Bayern Nachdreh Strasser 0840

Schwer zu sagen, was schlimmer ist, die Szene oder der Satz. Mit der Legende vom Maulwurf hat Neuer jedenfalls ein ganzes Universum für Hohn und Spott eröffnet. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis es heißen wird, der FC Bayern sei in Madrid von einem Maulwurf begraben worden. Auf Twitter ist ein Feuerwerk an Tier-Metaphern zu erwarten, hinzu kommen Memes auf Instagram, und in all diesen Witzchen wird Manuel Neuer der Depp sein. 

Lang unterdrückte Debatte

Dass man über Neuer mal feixen und lachen würde, schien bis zum Mittwochabend, bis zu jener 88. Minute, nahezu unvorstellbar. Neuer, das war doch der stets Verlässliche, der Rückhalt, so anfangs auch gegen Real. Er wischte Bälle weg, die man als Betrachter schon im Tor sah, warf sich furchtlos den Angreifern Vinicius Junior und Bellingham entgegen, baute von hinten mit präzisen Pässen das Spiel auf. 

Aber dann, der Fehler. 

Er sorgt jetzt nicht nur für Häme auf Social Media, sondern bringt eine Debatte in Gang, die lange unterdrückt worden war, vom FC Bayern und auch vom DFB: Ist Neuer wirklich noch so gut? Hat er nicht längst seinen Zenit erreicht? Mit 38 Jahren immer noch die Nummer eins – gibt’s da wirklich keine Jüngeren? 

Berechtigte Fragen. Sie wurden erstmals laut im Winter 2022, während der WM 2022. Gleich im ersten Gruppenspiel gegen Japan ein schwerer Patzer von Neuer, er öffnet die sogenannte kurze Ecke, Takuma Asano trifft zum 2:1 für Japan. Es ist eine Niederlage, die die Nationalmannschaft den Einzug ins Achtelfinale kosten sollte in Katar. 

Die Kritik an Neuer verhallte jedoch schnell, es gab überlagernde Debatten damals, die Regenbogen-Binde, erste Zweifel an Bundestrainer Hansi Flick. Für Neuer beides ein Glück. PAID IV Arzt FC Bayern 12.18

Auf eine solch eine Fügung darf Neuer nun nicht hoffen. Beim FC Bayern wird nach dieser Saison, der ersten ohne Titelgewinn seit 2011/12, alles auf den Prüfstand gestellt werden. Dazu zählt auch die Torhüterposition. 

Mit der Aura des Unantastbaren

13 Jahre spielt Neuer mittlerweile in München, und in all den Jahren ist es dem Verein nicht gelungen, eine starke Nummer zwei aufzubauen. Sven Ulreich und Daniel Peretz fügen sich klaglos in die Rolle der Reservisten, und der einzig Ambitionierte, Alexander Nübel, hat die Flucht ergriffen. Er ließ sich 2020 nach Monaco ausleihen und dann nach Stuttgart, wo er heute Stammkraft jener Mannschaft ist, die den FC Bayern unlängst 3:1 besiegte. 

In München wird Nübel noch immer in der Kategorie „Talent“ geführt, als Torwart der Zukunft, dabei ist er schon 27 Jahre alt. Wann diese Zukunft beginnt, hat bislang allein Manuel Neuer entschieden. Nübels Karriere in München hat er blockiert, er gönnte ihm nicht mal Spiele im DFB-Pokal, die, so ist es eigentlich Brauch, die Nummer zwei bestreiten darf. 

Ein ähnliches Bild bei der Nationalmannschaft. Neuer weicht nicht aus dem Tor, dabei hat er viele gute Jahre erlebt beim DFB, gekrönt 2014 mit dem Gewinn des WM-Titel 2014 in Brasilien. Anders als beim FC Bayern gäbe es einen Weltklassemann, der direkt von Neuer übernehmen könnte: Marc-André ter Stegen, einst geschult bei Borussia Mönchengladbach und seit zehn Jahren Ruhepol des FC Barcelona. Doch kein Bundestrainer hat es bislang gewagt, Neuer die Nummer eins zu entziehen. Joachim Löw nicht, Hansi Flick nicht, auch Julian Nagelsmann nicht. Geradeso, als würde Neuer ewig jung bleiben. Dabei kämpft Neuer schon seit Jahren mit Fußverletzungen, die ihn jeweils mehrere Monate außer Gefecht setzten. 

Zumindest in der Nationalmannschaft scheint Neuers Hausmacht etwas zu schwinden. Das Amt des Kapitäns hat er an Ilkay Gündogan verloren; zugleich aber versicherte Trainer Nagelsmann beim Lehrgang im März, dass er mit Neuer als Stammtorhüter für die EM plane. Neuer hatte sich beim Training in Frankfurt eine Muskelverletzung zugezogen – und bekam postwendend das Vertrauen ausgesprochen. 

Es gehört zu den großen Leistungen von Manuel Neuer, sich eine Dekade lang mit einer Aura von Unantastbarkeit umgeben zu haben. Niemand traut sich richtig an ihn heran, und womöglich liegt das auch daran, dass alle wissen, wie bissig Neuer sein kann, wenn es um die Wahrung der eigenen Interessen geht.

Im Januar 2023 entließ der FC Bayern Neuers Torwarttrainer Toni Tapalovic. Daraufhin gab Neuer ein Zeitungsinterview, wie man es noch nicht von ihm gelesen hatte. Der Verein habe ihm „das Herz rausgerissen“, klagte Neuer, die Trennung von Tapalovic sei „das Krasseste, was ich in meiner Karriere erlebt habe. Und ich habe wirklich schon einiges erlebt.“ Neuer gab auch eine englische Fassung des Interviews frei, was wie ein Bewerbungsschreiben für die Premier League wirkte.Interview Felix Magath 12:05

All das haben ihm die Bayern nachgesehen. Seine Leistungen waren stets ordentlich, an manchen Tagen sogar weltklasse, und nie hatte sich Neuer einen fatalen Fehler erlaubt. 

Jetzt aber hat auch Neuer seinen Oliver Kahn-Moment erlebt. WM 2002, Deutschland gegen Brasilien, Schuss Rivaldo, Kahn lässt den Ball vor die Füße von Ronaldo prallen, Schuss, Finale verloren. 

Kahn fiel danach in ein Loch, er brauchte Jahre, um sich von dem Fehlgriff zu erholen. Diese Zeit hat Manuel Neuer nicht mehr. Das weiß der FC Bayern, das weiß der DFB, das weiß auch Neuer. 

Womöglich ist am Abend des 8. Mai 2024 eine Ära zu Ende gegangen im Stadion Santiago Bernabeu. Und Schuld daran trägt ganz sicher nicht ein Maulwurf.